Nils - von Anerkennung und Abneigung
Es war ein kleines Dorf in Baden-Württemberg. Ein Dorf, in dem gesellschaftliche Normen und Normalitäten knallhart zuschlagen. Ich hatte einen Freund, Thomas. Er lebte mit seinem Vater zusammen, einem „Säufer“ und Arbeitslosen. Thomas war nicht gut in der Schule. Thomas machte Ärger. Ich glaube auch, Thomas bekam Prügel zuhause. Aber Thomas war mein Freund. Und er war ein guter Freund. Wenn ich heute daran denke, spüre ich das.
Wir spielten im Fußballverein. Der Sohn von unserem Trainer hieß Micha. Micha war beliebt, Michas Eltern hatten Geld. Micha setzte die Regeln und entschied, wer dazu gehört und wer nicht. Über einige Wochen entschied er, dass Thomas nicht mehr dazugehören sollte. Wir fingen an, Thomas zu ärgern, wir grenzten ihn aus. Wir beschimpften ihn für seine Familie. Wir schubsten und hauten ihn.
Mir kommen heute noch fast Tränen. Seine verständnislosen Blicke, die mich fragen: „Was ist los mit dir? Wir sind doch Freunde?“ Ich, der diese Freundschaft leugnen muss, um scheinbar mein gesellschaftliches Gesicht zu wahren.
Auch meine Familiensituation kollidierte mit dem Normalen in diesem Dorf. Mich gegen meinen Freund zu stellen half mir, mich wieder normal und anerkannt zu fühlen. Ich fühlte mich in diesen Momenten auch akzeptiert und nicht mehr schief angeguckt.
Thomas ist irgendwann weggezogen – mein schlechtes Gewissen und meine Schuld sind geblieben.
Ich glaube, wir müssen Abneigungen, die wir gegenüber einzelnen Menschen empfinden immer reflektieren. Wir können schnell Opfer einer internalisierten Normalität werden, die leider durchzogen ist von sexistischen, rassistischen, antisemitischen, homophoben und – in meinem Fall – klassistischen Denkmustern. Das heißt nicht, dass wir Menschen manchmal nicht auch einfach „nicht mögen“ dürfen oder ohne gute Begründung blöd finden dürfen. Aber an vielen Stellen sollten wir uns schon fragen, woher diese spezifische Abneigung gerade rührt. Vielleicht suchen wir in unserer Abneigung in manchen Momenten, unsere eigene gesellschaftliche Sprechposition zu verteidigen.
Das „andere“ bedroht das „eigene“, wenn das „andere“ benutzt und konstruiert wurde, um das „eigene“ als Selbst herzustellen.