Aila - Der schmale Grat

Ein ganz normaler Morgen, ich sitze im Regionalzug in Richtung Uni. Fahrkartenkontrolle. Noch ist der Zangenmann unten unterwegs. Ich krame aber schon mal meinen Geldbeutel hervor. Und dann warte ich. Irgendwann gucke ich über meinen Buchrand und sehe warum es so lange dauert...

“Ihr denkt och, ihr könnt euch alles erlauben. Weeßte, morgen sitzt de dann wieder hier und sagst dat de dit nich jewusst hast.”

Diese Worte und mehr von dieser Sorte dringen an mein Ohr. In einer Lautstärke und mit einer Mimik, die den Raum zum Ersticken bringt. Menschen beginnen sich gegenseitig anzusehen. In mir die Stimme: “das geht ja gar nicht!”.
Ich räuspere mich laut und fixiere den Zangenmann mit durchdringenden speerspitzen Blicken. Er merkt nichts.

“Ausweis. Ik will deen Ausweis sehn. – Geht dat n bisschen schneller?”

“Wie ich ihm die Meinung sagen werde, wenn er hier hochkommt um mich zu kontrollieren!!!” – “ja, wie denn eigentlich? Wie kann ich ihn denn am besten treffen, mmh?“ Vielleicht so: “Ich finde ihre Art unter aller Sau” – oder: “Sie sind ja die Verkörperung der Unprofessionalität in Reinform” – Aber nee, dann wirke ich ja so, als hätte ich meine Emotionen nicht im Griff. Vielleicht lieber: “Geben Sie mir doch mal bitte die Nummer von ihrem Chef! Die DB möchte sicher über die rassistischen Äußerungen ihrer Mitarbeiter Bescheid wissen.””

Von unten aus der Außenwelt: “bei Euch könnta ja och nicht einfach allet umsonst haben.”

Boah, mir wird schlecht! Ich merke wie sich die Wut in mir ausbreitet. Ich räuspere mich zum zweiten Mal.

Mein Herz pocht schnell, überall in mir Kribbeln. Das kann doch nicht sein, dass niemand was sagt, alle nur gucken. Gleich werde ich ihm meine Meinung sagen! Gern so, dass es alle hören. Oder jetzt sofort? Aber mmhh, bei meinem Ticket ist die Gültigkeit auch etwas fragwürdig.

Irgendwas wird da unten ausgetauscht, nach wie vor begleitet von Abfälligkeiten.

Potsdam Hbf – “was? schon? Aber, ich habe doch noch gar nicht …” - Ich muss aussteigen. Okay, im Runtergehen krieg ich ihn, denke ich. In diesem Moment verschwindet der Zangenmensch in den nächsten Wagen.

Draußen auf dem Bahnsteig tigere ich auf und ab. Mir geht die Pumpe. “Das darf nicht sein. Warum hast Du nicht gleich was gesagt? Und jetzt soll diese Szene unwidersprochen, unkommentiert, unkritisiert und somit allgemein akzeptiert bleiben? Zustimmung durch Nichts-Sagen? Genau das ist das Problem.”

Was bleibt und mich seither mehr denn je begleitet, ist die Erkenntnis, dass Eingreifen schneller gehen muss. Dass der Moment des ersten Ungerechtigkeitsgefühls das Zeichen ist, die Stimme zu erheben, dass es für ein “genug ist genug” kein objektives Maß gibt, dass es zweitrangig ist, wie man widerspricht. Erstrangig ist es, dass man widerspricht und dass es in unserer Verantwortung liegt (und damit meine ich die jedes*jeder Einzelnen) Initiative für Gerechtigkeit, Menschenwürde und Demokratie zu ergreifen.

Aila