Kampagne Viel.Entfalten

In unserer Kampagne Gesicht zeigen erzählen junge Menschen über ihre eigenen Erfahrungen mit Diskriminierung und Vorurteilen. Allerdings nicht aus der betroffenen Perspektive. Stattdessen erzählen sie, wie sie selbst diskriminiert, vorurteilsvoll gehandelt oder gedacht haben.

Worum geht es bei der Kampagne?

Sina: Um Empathie und Selbstreflektion. Wir wollten zeigen, dass es möglich ist auf eigenes Denken und Handeln zurückzublicken und zu sagen „Mit dem was ich heute weiß, mit den Erfahrungen die ich gemacht habe, gucke ich anders auf die Dinge. Heute würde ich nicht mehr so handeln.“

Also geht es auch ums Wiedergutmachen? Um Reue?

Sina: Nein, kein bisschen. Das ist keine Ablasskampagne.

Also benutzt ihr die Betroffenen nur um zu zeigen wie toll man sich als Mensch auf Kosten von anderen weiterentwickeln kann?

Lyonel: Nun ja, könnte man so sehen.... Es geht darum reale Beispiele zu nennen und zu zeigen, dass eine Reflexion darüber sowohl möglich als auch nötig ist.

Sina: Wir sind schlussendlich schon zu der Überzeugung gekommen, dass diese Betrachtungsweise etwas verkürzt ist. Niemand von den Mitmachenden hat die Situationen absichtsvoll hergestellt um daraus etwas zu lernen. Im Grunde sind viele der Geschichten auch austauschbar, weil sie so andauernd und überall passieren. Leider.

Was ist das Ziel der Kampagne?

Sina: Wir wollten zeigen, dass wir alle Teil der Gesellschaft sind. Dadurch sind wir auch alle Teil von Unterdrückungs- und Machtsystemen. Ob es uns gefällt oder nicht. Es geht also nicht um die Anderen, die Nazis oder AFD-Wähler*innen.

Lyonel : Ja, genau. Es geht um uns, wenn wir über Vorurteile, Diskriminierung und Stereotype sprechen.

Aber ihr seid doch Naturfreund*innen. Im Leitbild steht doch, dass ihr gegen Ausgrenzung und Unterdrückung seid. Inwiefern habt ihr denn Teil an Diskriminierung?

Sina: (lacht) Nur weil ich Naturfreundin bin, bin ich doch nicht außerhalb der Welt und total fehlerfrei. Das wäre ja toll. Was meinst du was wir da für einen Mitgliederzulauf hätten. Geil!

Lyonel: Menschen die sich als Antirassist*in, Antisexist*in etc... empfinden oder bezeichnen, versuchen oft bewusste Diskriminierungen zu vermeiden. Trotzdem handelt und/oder denkt Mensch oft unreflektiert diskriminierend. Davon kann ich mich auch selber nicht ausnehmen.

Sina: Das Stichwort ist hier wohl Sozialisation. Jede Generation überliefert ihre Stereotypen und Vorurteile an die nächste Generation. Man kann also sehr wohl rassistisch handeln ohne Rassist zu sein. Das ist wichtig zu verstehen.

Warum?

Sina: Wenn ich immer nur versteh „du bist ein Sexist“, wenn Menschen mir aber in Wirklichkeit mitgeteilt haben „hey, dass was du da gerade gesagt oder getan hast nehme ich als sexistisch wahr. Das ist scheiße und es verletzt mich.“ dann werde ich vermutlich immer in eine Abwehrhaltung gehen.

Lyonel: Wenn ich aber verstehe, dass ich in einer Gesellschaft aufgewachsen bin, die ein System von Machtstrukturen und Diskriminierungen enthält, dann wird mir bewusst, das Mensch diese Diskriminierungen teilweise verinnerlicht hat. Wir müssen unsere oftmals privilegierte Position realisieren, die Muster der Diskriminierung erkennen, sie hinterfragen und uns selbst reflektieren und versuchen somit die Verantwortung über unser Handeln anzuerkennen. Nur dann können wir die Muster mit unseren Handlungen neu malen und ausfüllen.Veränderungen fangen bei einem selbst an.

Zum Abschluss, wenn ihr euch alle so viel Gedanken gemacht habt, seid ihr ja bestimmt total fehlerfrei und respektvoll. Diskriminierung ist für euch bestimmt ein Fremdwort.

Sina: Nein, Quatsch. Ich gehe davon aus, dass ich andauernd irgendwas übersehe. Es wäre aber cool, wenn man ein Miteinander hätte wo es möglich ist sich gegenseitig auf Fehler hinzuweisen.

Lyonel: Ich versuche in meinen Handlungen, aber auch in meinen Gedanken niemanden zu verletzen und zu diskriminieren. Aber zu behaupten, dass das dann auch der Realität entsprechen würde wäre vermessen und falsch. Meiner Meinung nach ist es wichtig, sein eigenes Handeln zu reflektieren, selbst und im Gespräch mit anderen Menschen. Die wünschenswerte Folge davon wäre durch die Reflektion dann in Zukunft weniger diskrimierend zu handeln.